Bad in der Menge

von filmportal.de-Redakteurin Kristina Rose

Man will ja bekanntlich, was man nicht haben kann. Und selbst ich, die ich keine passionierte Clubbesucherin und Moshpit-Teilnehmerin bin, bekomme bei Bildern von Konzert- und Partypublikum doch ein wenig Sehnsucht danach, auch mal wieder in einer dampfigen, sich drängelnden und wogenden Menge zu stehen. All das ist zurzeit nicht, oder nur in sehr begrenztem und kontrolliertem Rahmen möglich. Wie schön, dass wenigstens auf die Filmwelt Verlass ist. Denn hier gibt es einiges (wieder) zu entdecken, was einem als  Surrogat dienen kann, um diese Zeit ohne Bad in der Menschenmenge zu überbrücken.

Werfen wir zuerst einen Blick in die deutsche Clubszene. Die ist von den Einschränkungen in der Corona-Pandemie sehr schwer getroffen, das vorher schon angeprangerte „Clubsterben“ wird jetzt drastisch beschleunigt. Der Club als Ort, an dem man nicht allen Regeln folgen muss und Freiheiten genießt, die man im Alltag vermisst – der fehlt vielen. Romuald Karmakars Dokumentarfilm DENK ICH AN DEUTSCHLAND IN DER NACHT (DE 2015-2017) nimmt die Zuschauer/innen mit zu einer sehr unaufgeregten Begegnung mit der deutschen Technoszene. Die Bilder sind nah an den DJs. Wir blicken ihnen über die Schulter – zuerst noch distanziert von den Feiernden – und  bekommen einen fragmentierten Blick auf das Publikum. Gegen Ende nimmt die Kamera schließlich auch die Position  der tanzenden Menge ein. Der Film ist weniger eine immersive als eine philosophische Begegnung mit einem Stück (deutscher) Kultur. Wie passend erscheint mit dem jetzigen Blick ein Zitat von Move D, der meint, dass Techno wie ein Virus ist, das einen befällt. Die elektronische Musik kann sehr vereinnahmend wirken und den DJs die Möglichkeit geben, das Publikum auf eine Reise zu schicken, ihnen eine Botschaft zu vermitteln. Wenn dies klappt, was nicht immer der Fall ist, ist das wie der Höhepunkt, so Sonja Moonear in Denk ich an Deutschland in der Nacht.

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A propos Höhepunkt: Ein ganz anderes Bad in der Menge nimmt der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille in DAS PARFUM (DE/ES/FR 2005/2006. R: Tom Tykwer): Wenn er kurz vor seiner Hinrichtung sein Taschentuch zückt, um die geifernde Menge mit dem perfekten Parfüm zu betören, fallen sie alle ebenso geifernd in einer spontanen Orgie übereinander her. Eine Menschenmenge, in die Grenouille schlussendlich für immer abtaucht.

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Solche öffentlichen Orgien waren nun schon vor Corona höchst selten anzutreffen, aber wer weiß, was passiert, sobald die Abstandsregeln ein für alle Mal aufgehoben werden?

Ein Film mit ähnlich viel nackter Haut sei all denen ans Herz gelegt, die ihren Ballermann-Urlaub bereits storniert hatten, bevor die Reisewarnung zeitweise wieder aufgehoben war (und jenen, die finden, dass Frauen ganz allgemein zu respektvoll behandelt werden): In BALLERMANN 6 (DE 1997. R: Gernot Roll, Tom Gerhardt) kann man ganz nah am deutschen Traditionsurlaub teilnehmen und zusammen mit Tom Gerhardt und Hilmi Sözer im Sangria-Kessel planschen!

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Spaß beiseite: Neben Clubbesuchen fallen in diesem Jahr auch fast alle Konzert- und Musikfestival-Besuche flach. Natürlich kann man da zum Offensichtlichen – dem Konzertfilm – greifen. Oder aber FULL METAL VILLAGE (DE 2006. R: Sung-Hyung Cho) anschauen. Der Anteil der Konzertszenen mit im Matsch badendem Publikum ist zugegebenermaßen begrenzt, aber dafür kommt man umso mehr in den Geschmack der norddeutschen, etwas spröden joie de vivre.

„Man kann nur hoffen, dass man das bald wieder angstfrei tun kann“, sagt Roman Flügel in Denk ich an Deutschland in der Nacht über das Feiern im Club und nimmt damit Bezug auf die Terroranschläge im Pariser Nachtclub Bataclan. Die Bedrohung war damals eine ganz andere als heute, aber dennoch geht bei einigen bestimmt ein mulmiges Gefühl mit auf die Tanzfläche, wenn die Clubs wieder öffnen. Bis dahin können wir ja wie Move D alleine in der Natur stehen und statt der Musik den Vögeln lauschen.

 

Titelbild: DENK ICH AN DEUTSCHLAND IN DER NACHT (DE 2017, R: Romuald Karmakar)